TAG 67

Im Geigersberg 8








Liebes Tagebuch,

heute hatte ich also die letzte Etappe vor mir. Ein letztes Mal (zumindest vorerst) aufs Fahrrad sitzen, um 86 Kilometer und 980 Höhenmeter in Angriff zu nehmen. Und das bei einer Lufttemperatur von 31 Grad und prallem Sonnenschein.

Die Strecke führte mich durch das Jagst-Tal und anschließend durch das Kocher-Tal. Es ging also zwei mal kurz hintereinander einige Kilometer sehr steil bergab und anschließend wieder mehrere Kilometer sehr steil bergauf. Aber glücklicherweise fließt durch das Kocher-Tal ein Fluss namens Kocher und ich habe es sehr genossen, mich in diesen kühlen Fluss zu legen und die Strömung auf mich wirken zu lassen.

Bei einer späteren Pause in Öhringen kam ich zum ersten Mal während der kompletten Reise an einem Ort vorbei, an dem ich bereits bei der Hinfahrt schon war. Auch hier floss der Kocher und ich lies zur Abkühlung nochmal für eine Weile meine Füße rein hängen. Die restliche Route führte dann aber wieder einen anderen Weg als ich bei der Hinfahrt gefahren bin, sodass ich wirklich keinen Meter „zurück“ gefahren bin, sondern jeden Weg und jede Straße zum ersten Mal fuhr.

Die weitere Strecke ging dann etwas mehr bergab und die Luft wurde nach und nach etwas kühler.

In Heilbronn aß ich dann noch einen Falafel und anschließend fuhr ich die letzten zehn Kilometer bis zu meinem Elternhaus, wo ich den nächsten Monat wohnen und arbeiten werde.

Die letzten achteinhalb Wochen habe ich, mit zweiwöchiger Pause in Estland, etwa 4.300 Kilometer und 33.000 Höhenmeter mit meiner eigenen Kraft zurückgelegt.


Ich bin dabei kein einziges mal mit öffentlichen Verkehrsmitteln gefahren und habe mich auch nicht von Leuten mit großen Autos mitnehmen lassen. Und nur um es nochmal klar zu machen: Ich war nicht mit einem E-Bike unterwegs. Das hätte ich jede Nacht für mindestens acht Stunden an eine Steckdose anschließen müssen, was für mich überhaupt nicht in Frage kam. Ich war mit einem Fahrrad unterwegs, das nur durch meine eigenen Muskeln angetrieben wurde. 

Ich habe Tschechien, Polen, Litauen und Lettland auf zwei unterschiedlichen Routen durchquert und viel von dem jeweiligen Land, den Menschen, den Einkaufs-Läden, den Städten, der jeweiligen Kultur und der Natur kennengelernt.

Ich war zwar zwei Wochen in Estland, allerdings direkt an der Grenze zu Lettland, wodurch Ich kaum durch Estland gefahren bin. Und da ich während der zwei Wochen auch noch in einer Parallel-Gesellschaft, welche sich Rainbow-Gathering nennt, gelebt habe, konnte ich nicht viel von dem Land an sich kennenlernen.

Ich bin während der Reise jeden Morgen aufgestanden und habe den nächsten Schritt in die geplante Richtung in Angriff genommen. Jeden Morgen habe ich den Schlafsack eingepackt, meine Klamotten in den Packsack gestopft, die Thermarest-Matte eingerollt, das Zelt abgebaut, den Anhänger beladen, und bin losgefahren.

Zwischen den vielen Kilometern machte ich einige Pausen, welche ich auf der Rückfahrt sehr viel entspannter nutzen konnte, da ich mehr Tage zur Verfügung hatte und somit nur noch drei Viertel der täglichen Distanz im Vergleich zur Hinfahrt gefahren bin.

Ich habe mir viele Mahlzeiten selbst gekocht, war aber auch in vielen Restaurants essen. Ich bin in vielen Seen und Flüssen und sogar in der Ostsee geschwommen, aber stand insgesamt nur drei mal unter einer Dusche.

Ich habe mir insgesamt zwei Zecken entfernt und wurde von unzähligen Stechmücken attackiert. Genauso unzählig waren die Hunde, von denen ich angebellt wurde.

Ich bin einigen Rehen begegnet, manche davon lagen tot auf der Straße. Außerdem habe ich unzählige Kühe, viele Hunde, Katzen, Hühner, Gänse, Möwen, Reiher, Fische, Frösche, Spinnen, Ameisen, Käfer, Mücken, und viele weitere Tiere und Insekten, deren Bezeichnung ich nicht kenne, gesehen.

Während ich nachts in meinem Zelt lag habe ich hin und wieder gehört, wie ein Tier von einem anderen gejagt wurde und um sein Leben rannte.

Ich habe mir während der Reise drei tiefe Schnittwunden zugefügt, war ein paar Tage von Durchfall und Schwäche geplagt und meine Knie waren, vor allem am Anfang der Reise, hier und da kurz davor, die Arbeit niederzulegen.

Ich bin zwar jeden Tag alleine gefahren, aber habe mich nur selten einsam gefühlt. Denn ich hatte ja zum einen mich selbst, und zum anderen waren um mich herum immer wieder viele andere Menschen, unter denen ich hier und da auch neue Freunde gefunden habe.

Ich habe mein Zelt an 53 verschiedenen Orten aufgebaut, wovon nur sieben offiziell genehmigt, oder besser gesagt „legal“ waren. Trotzdem hatte ich kein einziges Mal Probleme mit Anwohnern, Grundbesitzern oder der Polizei.

Ich habe in den letzten 67 Tagen sehr viel erlebt, habe viel mehr Eindrücke gewonnen, als ich hier in Worte fassen oder in Bildern festhalten konnte.

Ich fühle mich grade ungefähr so, wie wenn man nach einem sehr, sehr langen, verrückten Film aus dem Kinosaal läuft und sich erstmal orientieren und den Ausgang finden muss.

Ich liege jetzt in einem richtigen Bett, mit einer Matratze, in einem geschlossenen Zimmer in dem  Haus, in dem ich die ersten 20 Jahre meines Lebens gewohnt habe. Im Moment fühlt es sich noch komisch an, aber man kann sich ja irgendwie an alles gewöhnen.

Hier zum letzten Mal die Details zur heutigen Route:

https://www.komoot.de/tour/259154537

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